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Necati Öziri möchte Literatur studieren, aber was wird man damit?


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Necati Öziri.

Necati Öziri. © Renate Hoyer

Necati Öziri erzählt in „Vatermal“ von einem jungen Mann, der womöglich stirbt, von einer traurigen Familie und überhaupt vom Leben.

Necati Öziri wählt eine krasse Ausgangssituation für seinen Debütroman „Vatermal“. Der Ich-Erzähler Arda liegt sterbend auf der Intensivstation. „Meine Leber hat beschlossen, nicht mehr mitzumachen. Das ist keine Metapher in einem Bildungsroman für Kanaken oder so.“ „Autoimmunhepatitis“ heißt die Krankheit, ein schockierendes Wort. Es gibt zwar die Möglichkeit, dass eine Kortisonbehandlung beruhigend anschlägt, aber bei Arda sieht es nicht gut aus.

„Mein Name ist Arda Kaya, und es geht mir gut“, soll Arda jeden Tag in einen Notizblock schreiben, Seite um Seite sind schon gefüllt. Keine Autosuggestion, sondern ein Test. An der Handschrift soll abzulesen sein, wie stark sich die Giftstoffe im Gehirn abgelagert haben. Das ist so effektvoll und sinnig und natürlich widersinnig, dass sich eigentlich nur ein Schriftsteller so etwas ausdenken kann.

Interessant auch, dass der Tod „Vatermal“ grundiert, aber doch eher formal. Arda ist ein lakonischer und aufgeweckter Erzähler. Seine hochdramatische, aber irgendwie auch schon wieder Gewohnheit gewordene Lage ist vor allem ein Anlass, um über seinen Vater zu schreiben, der früh aus dem Leben der kleinen Familie verschwunden ist. Die kleine Familie ist auch daran letztlich zerbrochen. Der Vater ist zurück in die Türkei gegangen, die er als politisch Verfolgter verlassen hat, eine einsame Entscheidung. Die Mutter arbeitet sich kaputt und wird zur Alkoholikerin. Die ältere Tochter Aylin sucht ihren Weg, eine Pubertätskarriere mit Pflegeeltern, die cool sind, aber so cool dann auch nicht, und mit Ladendiebstahl. Später fängt sie sich, arbeitet in einer Bank, lebt mit einer Frau und nennt sich jetzt Yvonne.

Arda selbst hängt als Jugendlicher im Park rum, wie Jugendliche es so machen. Ihn und seine Freunde kann man schon kennen, wie man auch die Grundkonstellation des verschwundenen Vaters und der energischen, verzweifelten Mutter Ümran und ihrer Geschichte schon kennen kann. 2017 hatte Öziris Stück „get deutsch or die tryin’“ seine Uraufführung am Maxim-Gorki-Theater in Berlin. 2021 las Öziri, 1988 in Datteln geboren, einen Prosaauszug beim Literaturwettbewerb in Klagenfurt und gewann den Publikums- und den Kelag-Preis. Mit „Vatermal“ ist er für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Das Buch:

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Buchhandlung Jakob

Necati Öziri: Vatermal. Roman. Claassen, Berlin 2023. 294 Seiten, 25 Euro.

Im Buch erzählt Arda, den man selbstverständlich nicht mit Necati Öziri verwechseln, aber doch in einem Zusammenhang mit ihm sehen darf, wie er zu seinen Freunden im Park sagt, dass er später mal was mit Literatur machen will. Die Freunde sind erst ganz still, dann lachen sie sich kaputt. „,Keine Ahnung, irgendwie müssen wir mit diesen ganzen Storys doch Cash machen, oder?‘, versuchte ich mich zu retten, aber keine Chance.“

„Vatermal“ ist ein salopp daherkommender, aber gut durchgearbeiteter Roman. Die jahrelange Beschäftigung damit, die Varianten, die sich ergeben haben, geben dem Flüchtigen in der Sprache doch einen Halt im Leben. Seine Glaubwürdigkeit bezieht „Vatermal“ nicht aus den Vermutungen, die man beim Lesen zum Thema Autofiktion oder Autobiografie anstellen wird, sondern aus sich selbst und aus der literarischen Umsetzung heraus. Dass Arda stirbt, das glaubt man eventuell nicht, aber so etwas glaubt man auch im Leben nie.

Dass Öziri als Theaterautor angefangen hat, lässt ihn hingegen hinreißende Dialoge schreiben, darunter Kabinettstücke wie Ardas letzten Auftritt bei der Ausländerbehörde. An sich ist das nicht lustig. Arda erzählt zuvor schon von der Mutter, die auf keinen Fall einen Fehler machen und deutscher als jede Deutsche auftreten will. Jetzt aber ist Arda 18 und wird offiziell Deutscher. Herr Kozminski fordert ihn auf, ein paar Zeilen zu schreiben, eine Art Deutschtest. „Na dann wollen wir mal sehen“, sagt Herr Kozminski, „,Ich werde eure Töchter vögeln bis sie arabisch sprechen. Ich klaue euren Söhnen den Praktikumsplatz, mach sie drogenabhängig und verkaufe ihre Organe auf dem Basar. Ich breche nachts den Stern von euerm Benz ab und trage ihn an meiner Halbmondkette. Ich will kein Arzt oder Anwalt werden, ich werde Superstar oder arbeitslos.‘“ Arda: „Ich hab nicht gezählt, sind das 300 Zeichen?“ – „Sehr witzig“, sagt Herr Kozminski, „wirklich, sehr witzig. Hier fehlt ein Komma und es heißt ,von eurem Benz‘, nicht ,euerm‘.“ Und was will Arda später mal machen? „Studieren.“ – „Und was?“ – „Literatur.“ – „Und was wird man damit?“ – „Keine Ahnung.“ Im Studium gibt sich Arda so viel Mühe wie die Mutter auf der Ausländerbehörde. Die anderen halten ihn für einen Streber, er aber hat nur „eine scheiß Angst davor, aufzufliegen“.

Der Vater, als kleines Mal in Ardas Gesicht präsent, bleibt eine Leerstelle, ein Schwarzes Loch. Arda, der gerne redet und schreibt und nachdenkt, fällt das gar nicht so auf. Beim Lesen ist es entsetzlich, wie sehr er in allem ohne Antwort bleibt.

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Author: Nicholas Duran

Last Updated: 1704598321

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